Frauen gehen durch Wände, tanzende Filzstifte, Fratzen grinsen aus dem Spiegel. Im Alkoholdelir sehen Betroffene bizarre Dinge – und halten sie in dem Moment für echt. Rainer, ein Betroffener, erzählt seine Geschichte.
„Um 23.30 Uhr ging der Film los. Da war diese Frau in einer hellbraunen Wildlederjacke, halblange, mittelbraune, glatte Haare, braune Halbstiefel und Jeans, die etwa jede Stunde ins Zimmer kam und mich anlächelte. Ich hatte Angst, aber sie hat mich beruhigt mit ihrem Lächeln.
Bis ich bemerkte, dass sie immer wieder durch die Wand den Raum betrat und nicht durch die Tür. Sie ging immer links an der Tür vorbei. Ungefähr sechs Stunden ging das so in der Nacht zum 09.01.2003. Ich lag im Überwachungszimmer.
Trotzdem kam ich nicht auf die Idee, dass irgend was nicht stimmt. Ich hätte nur dem Wachdienst rechts von meinem Bett an die Scheibe klopfen müssen. Ich tat es nicht. Denn zwischen der Wand mit dem Fenster zum Wachdienst und meinem Bett lag auf dem Boden die Leiche einer älteren Frau. Also so halb unter meinem Bett, lag sie. Ich drehte mich weg, weil ich Angst bekam, und blickte in die Raummitte auf den Boden. Dort tanzten Hunderte Stabilo-Boss-Stifte im gleichen Rhythmus. Als würden sie einen Hüftschwung machen.
Ich fand das normal, zumindest nicht ungewöhnlich. Ich wusste ja nicht, dass ich gerade ein entzugsbedingtes Delir hatte. Ich fand auch nichts Besonderes an dieser irrsinnig fetten Frau, die durch den Raum lief und mich fies anschaute, sich dann immer wieder schlecht versteckte hinter einem kleinen Wandvorsprung am Waschtisch – um dann neu aufzutauchen. Ich hatte Angst vor ihr.
An diesem Waschtisch war ein Spiegel. Aus diesem Spiegel schauten mehrere Fratzen zu mir rüber und lachten mich aus, als wäre der Spiegel eine Glasscheibe. An den Wänden und der Decke standen Texte in grossen handgeschriebenen Buchstaben und wann immer ich sie lesen wollte, veränderten sie sich. Ich bekam immer mehr Angst, saß aber immer noch auf meinem Bett und rief keinen Pfleger oder so, weil ich dachte das sei alles real.
Aber dann kam wie gesagt immer wieder diese Frau in der braunen Wildlederjacke in den Raum, die mir Ruhe und Gelassenheit gab. Sie war eine Art Engel für mich. Ich sprach immer wieder zu ihr aber sie sagte nichts. Ich fragte was sie hier denn macht und ob denn noch Besuchszeit sei. Sie lächelte mich aber jedes Mal nur auf eine Art an, die mir irgendwie das Gefühl gab, dass alles in Ordnung sei und ich keine Angst haben muss. Anders kann ich das nicht beschreiben. Auf jeden Fall erinnere ich mich heute noch an dieses Gefühl. Sie stand dann immer wieder auf und verliess den Raum und kam irgendwann wieder um mir neuen Mut vor all diesen Fratzen zu geben.
Dann waren plötzlich zwei Katzen im Raum. Eine rote und eine braune. Sie sprangen auf das Bett meines einzigen Zimmer-Nachbarn. Ich bemerkte, dass er auf dem Bett im Schneidersitz saß, mit dem Rücken zu mir, das Gesicht zur Wand. Er hatte ein himmelblaues (OP?) Hemdchen an, was hinten offen war. Sein Rücken war stark behaart. Er hatte sehr weiße Haut, kurze braune Haare mit Halbglatze und wog mindestens 130 Kilo.
Die rote Katze ging zu ihm aufs Bett, er drehte sich aber nicht um. Die Braune blieb auf dem Boden. Ich wollte die Katzen zu mir locken und lehnte mich aus meinem Bett, weil ich sie streicheln wollte. Sie guckten aber nur zu mir rüber. Ich sprach den Mann an. Er sass aber nur da, bewegte sich nicht, drehte sich nicht um und sagte auch nichts. Irgendwann wurde das richtig unheimlich. Dann kam wieder die fette Frau. Sie hatte das gleiche himmelblaue Hemd an. Sonst nichts. Ich schaute wieder zu meinem Nachbar-Bett rüber. Dort saß jetzt eine kleine alte Dame mit schneeweissem Haar, mit dem Gesicht zu mir und lächelte mich liebevoll an. Die Katzen waren immer noch da.
Morgens ums 5.30 Uhr kam es zu einem Gespräch mit meinem Zimmer-Nachbarn, der irgendwie wach geworden war. Ich fragte ihn: „Ist das denn erlaubt?“ Er fragte „Was? Die Kissen?“ Ich sagte: „Nein, die Katzen im Raum.“
Mein Zimmernachbar, ein etwa 40jähriger, schlanker Inder, verließ daraufhin sehr schnell den Raum. Kurz danach waren drei Notärzte im Raum. Ich erinnere mich nur noch an den roten Koffer neben mir. Sie sagten zu mir: Was ist denn los? Ich sagte „Ich weiss es auch nicht, hier passieren letzte Nacht so viele Dinge, die ganzen Katzen und dann kommt immer diese Frau“.
Der Notarzt fragte: „Welche Frau?“ Ich sagte: „DIE“ und zeigte auf den Stuhl, wo sie auch immer noch saß und mich anlächelte. Der Stuhl war natürlich leer für den Arzt.
„Bitte nehmen Sie mir mal den Faden aus der Hand“ sagte er und hielt seine Hand über mein Gesicht. Ich versuchte ihn zu nehmen, aber da war gar kein Faden. Das war so ein Test von denen. Sie gaben mir hochdosiert Distraneurin (Anmerkung: Das ist ein starkes Beruhigungsmittel, das im akuten Alkoholentzug angewendet wird). Die Frau auf dem Stuhl stand dann auf, lächelte mich ein letztes Mal an hinter den Ärzten und verließ den Raum; wieder durch die Wand.
An ihr Gesicht erinnere ich mich heute noch als wäre es gestern gewesen. Die übrigen Halluzinationen waren auch sofort weg. Das war wohl für die Ärzte das Zeichen das ich kurz davor war, ganz ins Koma zu fallen. Meinem Körper fehlte der gewohnte Alkohol, 15 Stunden nach meiner Einlieferung in die Klinik mit einem Rettungswagen.
Wieder mal rausgeholt aus meiner Wohnung, weil irgendwer einen Notarzt gerufen hatte. Vollgekotzt mit einer Tüte in der Hand wurde ich am 08.01.2003 liegend eingeliefert. Die Mit-Patienten machten sich lustig darüber, weil ich noch nie klinisch tot gewesen war. Und überhaupt warum ich dort war und in keiner Privatklinik.
Der Rettungswagen hatte mich aber dorthin gebracht mit Blaulicht. ich hatte gar keinen Einfluss auf irgendwas, weil ich auch nicht mehr ansprechbar war. Dann sahen sie, dass mein ganzer Rücken schwarz war, nicht blau. Schwarz. Ich weiss nicht warum. Ich hatte wohl zwei Tage ohne Essen und im Delir in meiner Wohnung am Boden im Flur gelegen, wie sich später herausstellte. Ich hatte auch tagelang Schmerzen oberhalb des rechten Auges. Vermutlich war ich an der Stelle aufgeschlagen.
Wenn man dann aufprallt oder sich stößt, ist man wegen irgendwelchen Blutplättchen wohl extrem empfindlich auf blaue Flecken sagte man mir. Auf jeden Fall wurde ich dann noch geröntgt, entgiftet und am 22.01.2003 entlassen; Zuhause war ich sofort wieder rückfällig trotz dieses schlimmen Erlebnisses.
Zwei Tage später bin ich wieder dort eingeliefert worden, am 1.02.2003 wurde ich aus der Entgiftung entlassen und am 4.02.2003 kam ich in die Anschluss-Therapie nach Wied. Allerdings konnte ich dort auch nicht trocken bleiben. Das klappte erst ab dem 22.07.2004 bis Februar 2008, wo mir der Arzt das Tramalrezept nach einer HNO-Operation gab. (Anmerkung: Das ist ein Opioid). Das waren die ersten dreieinhalb cleanen Jahre in meinem Leben, wenn man den Kindergarten nicht mitrechnet.
Nach meinem Alkoholdelir bin ich in dem Krankenhaus auf die Knie gegangen und habe bitterlich nach oben geweint, dass mir jemand JETZT helfen möge, wenn es oder jemanden gibt. Ich war so verzweifelt am nächsten Tag. Ich wusste, dass ich sterben würde, wenn kein Wunder geschieht. Es ist aber ein Wunder geschehen danach.“
Bild: Stefan Keller / Pixabay