Seitdem Corona durch die Welt geistert, ist der Alkoholkonsum nach oben geschnellt. Bis zu einem Drittel mehr haben beispielsweise die Amerikaner während des Lockdowns getrunken, in Europa sieht es nicht viel anders aus. In den letzten Tagen geht dafür eine ebenso leichte wie ahnungslose Begründung durch die Medien: Aus Langeweile hätten die Leute getrunken, weiß zum Beispiel der Norddeutsche Rundfunk.
Stimmt, Kollegen. Ein bisschen jedenfalls. Mich ärgert diese Simplifizierung trotzdem. Eine so einfache Erklärung („Langeweile“) provoziert geradezu den ebenso schlichten (wie nutzlosen) Ratschlag: „Ja, dann müssen die sich halt mit was beschäftigen.“
Ist klar. Scrabble gegen den Alkohol. Führt dann auch gleich wieder zum Kurzschluss: „Wer aus Langeweile trinkt, der will das ja am Ende und ist nur zu willensschwach, zu undiszipliniert, die Zeit mit was anderem zu füllen.“
Falsch, Leute. Ihr macht die Rechnung ohne den Wirt. Alias Suchtgedächtnis.
Wer diesen Teufel nicht im Hirn sitzen hat, kann wirklich nur ansatzweise mitreden. Richtig ist: Das wochenlange Anstarren der eigenen vier Wände ist tendenziell langweilig. Die Frage stellt sich auch rasch: „Warum eigentlich den Schlafanzug überhaupt ausziehen – sieht ja eh keiner.“ Die Tagesstruktur droht, sich aufzulösen. Biochemisch gesprochen: Das Dopaminsystem wird faul.
Dopamin ist ein Nervenbotenstoff, der für Antrieb, Belohnung und daraus stammende Glücksgefühle verantwortlich ist. Nicht-Trinker können sich (und damit ihrem Dopaminsystem) gut selber in den Allerwertesten treten. Sie fangen an zu basteln, zu backen, zu puzzeln oder was auch immer. Wenn der Kuchen duftet oder das Puzzle fertig ist, ist das Dopaminsystem zufrieden.
Wer allerdings auch vor Coronazeiten schon zu viel und zu oft Alkohol getrunken hat, dessen Gehirn kennt eine Abkürzung. Alkohol verpasst dem Dopaminsystem einen Kickstart. Leere, Langeweile und Antriebslosigkeit verschwinden – ein, zwei Gläser reichen und die kleine Wohnungswelt ist wieder bunt.
Langeweile, Leere und fehlende Tagesstruktur sind aber nur eine Seite der Medaille.
Es kommen bei sehr vielen auch noch Ängste dazu. Zukunftsängste. Corona hat viele Menschen dicke wirtschaftliche Probleme beschert. Und wieder: Die Frage „Wie soll das alles nur weitergehen“ erstickt Alkohol im Keim. Wer auch schon vor dem Lockdown zu viel trank, der hat auch mit dem Runterspülen von Sorgen Erfahrungen.
Auch das weiß deren Suchtgedächtnis genau: Ein paar Schluck und die Welt ist wenigstens für ein paar Stunden nicht mehr so grau. Auch hierfür gibt es biochemisch eine Erklärung: Alkohol kurbelt das Serotoninsystem an, so lange er wirkt. Serotonin ist ein Nervenbotenstoff, der für Glück und Zufriedenheit zuständig ist. Das Antidepressivum aus der Flasche sozusagen.
Bitter, aber es ist so.
Als wäre das alles nicht genug, kommt noch ein dritter Faktor dazu: Stress. Sozialstress. Viele Familien leben in Wohnungen, die im Alltag natürlich räumlich völlig ausreichen: Die Erwachsenen verlassen die vier Wände in Richtung Arbeit, Einkauf – die Kinder gehen zur Schule. In Coronazeiten findet all das daheim statt. Es muss sogar noch Platz für den Home-Office-Arbeitsplatz gefunden werden, gleichzeitig drücken die Kinder daheim die Schulbank. Das will beaufsichtigt sein – während die eigenen Verpflichtungen ja weiter laufen.
Auf Deutsch: Da entsteht schon binnen kurzer Zeit ordentlich Dampf im Kessel.
Passender Weise bietet Alkohol auch hier scheinbar Abhilfe: Alkohol entspannt. Da er die beiden mächtigsten Entspannungsbotenstoffe des Körpers manipuliert: GABA und Glycin. Ein paar Gläschen und die Anspannung lässt nach. Lass die Kinder über Tisch und Bänke toben – ist alles nicht mehr so schlimm.
Leere, Zukunftsängste, Sozialstress: Und gegen alles hilft scheinbar der Alkohol.
Kein Wunder, dass Corona ein Trink-Turbo ist. Sicherlich nicht für jeden. Wer aber bereits vor der Pandemie über das normale Maß hinaus getrunken hat, der hat wahrscheinlich im Lockdown umso beherzter zugegriffen. Denn: Auch die Sozialkontrolle fiel ja aus. Selbst im Homeoffice konnte ja schon am Nachmittag „ein Schlückchen in Ehren“ durchaus sein – fiel ja niemandem auf und die Fahne riecht auch keiner.
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